Eine Humanität ohne Eigenschaften / von Emmanuel Mir

12.12.2013 14:47

Ein rascher Blick über ihre malerische Produktion informiert über die bevorzugte Gattung von Kerstin Müller-Schiel: das Portrait. Auf grundierten oder nicht grundierten Leinwänden, auf großen Papierbögen oder auch auf Holzplatten, aus breiten und weichen, sehr flüssigen Farbflächen, die die Künstlerin mit schnellen und sicheren Gesten aufträgt, entstehen Menschen, verwickelt in alltägliche, unspektakuläre Handlungen. Die Allgegenwärtigkeit der Figur in Müller-Schiels Werk ist so auffallend, dass der Begriff des Anthropozentrismus sofort in den Sinn kommt. Aber sind das wirklich Menschen auf diesen Bildern? Kann man hier wirklich von „Portraits“ sprechen? Täuscht nicht vielmehr der erste, rasche Blick?

 

Die Kunst der Moderne lehrt es: Eine Menschendarstellung erfüllt noch längst nicht die Bedingungen eines Portraits. Letztere Gattung, überhaupt eine der ältesten der gesamten Kunstgeschichte, hat im vergangenen Jahrhundert eine bemerkenswerte und tiefgreifende Veränderung durchlebt. Galt sie schon immer als Mittel der repräsentativen Selbstdarstellung und des gesellschaftlichen oder subjektiven Selbstverständnisses, werden ihre affirmativen Komponenten vor allem seit der Nachkriegszeit gründlich infrage gestellt. Bacon, Giacometti, Fautrier oder, aus einem anderen Blickwinkel, Warhol, Segal und Hanson, löschten alle individuellen und charakteristischen Züge der Figur aus und entleerten sie somit von ihrer humanen Substanz. Nach den Katastrophen von Hiroshima und Auschwitz hatte der Mensch sein Gesicht verloren; im Strudel der postindustriellen Gesellschaft verlor er seine Seele.

 

Trotz einer beachtlichen Rückkehr zur Figur in der Postmoderne, akzentuierte sich dieser Schwund in den 1980er- und 1990er-Jahren und nahm das trügerische Erscheinungsbild einer hedonistischen Identitätsspielerei an. Neben der Fortsetzung einer skeptisch-existentialistischen Tradition mit Opie, Oursler oder den Chapman-Brüdern, standen und  stehen noch immer die polymorphen Selbstkonstrukte von Künstlern wie Sherman, Morimura und – in einem ganz anderen Register – Madonna für eine labile, austauschbare und immer neu definierbare Auffassung des Ichs. Im Zeitalter des Identitätsdesigns wechselt das Individuum sein Gesicht wie ein Hemd und erfindet sich damit jede Saison neu. Was zunächst wie eine befreiende Öffnung klang, erwies sich auf lange Sicht als eine Überforderung, die schließlich zu Orientierungslosigkeit, Identitätsverlust und Schizophrenie führte.

 

Dieser kunsthistorische Prolog ermöglicht es, die Arbeit von Kerstin Müller-Schiel in einen bestimmten Kontext zu stellen. Von diesen Prämissen ausgehend, könnte man gleich auf eine logische Kontinuität des Figurenausfalls schließen, aber dem ist nicht so, wie wir noch zu erörtern haben. Der kunsthistorische Prolog ist nur ein Zugang unter vielen anderen zur außergewöhnlichen Herangehensweise von Müller-Schiel. Außergewöhnlich ist diese Kunst insofern, als es sich in erster Linie um Portraits handeln, die sich weigern, Portraits zu sein. Es sind – um es zugespitzt zu formulieren – Menschendarstellungen ohne Menschen.

 

In ihren Bildern inszeniert Müller-Schiel ein minimales Theaterstück mit abgekapselten und gesichtslosen Darstellern. Die Malerin tilgt alle individuellen Merkmale ihrer Figuren, bereinigt sie von allen spezifischen Eigenschaften, bis diese zu undefinierten Schatten werden. Die Körper werden von all ihren unverwechselbaren Wesensmerkmalen gesäubert; sie sind nicht Träger einer Geschichte, nicht  Medien einer originellen Erfahrung. Sie haben ihre Prägung verloren. Diese Körper bilden vielmehr allgemeine menschliche Typen (das Kind; die Frau; der Mann mittleren Alters) als dass sie sich auf reale Menschen beziehen würden. Durch diese Entindividualisierung der Figur verwandelt sich der dargestellte Leib in ein Zeichen. Auch im Kopfbereich, der in der Portraitgattung traditionellerweise als Herd der Expressivität fungiert, herrscht eine gespenstische Leere. Wenn sie überhaupt wahrnehmbar werden, sind die Gesichtszüge auf wenige wasserhaltige Farbpfützen reduziert. Was übrig bleibt, sind Schemen, Phantome, seelenlose Erscheinungen, die ihre Spuren in einer entleerten Welt hinterlassen.

 

Die Schatten von Müller-Schiel bewegen sich in einem Nicht-Raum. Die Hintergründe dieser „Portraits“ sind nicht immer vorhanden; und wenn schon, dann höchst  spärlich. Ansätze von Motiven und unabgeschlossene Zeichen liefern mit einem lakonischen Trotz Minimalinformationen zu einer Umgebung, die der Betrachter zu Ende fantasieren kann. Menschen ohne Eigenschaften schweben in einer Landschaft ohne Eigenschaft. Dadurch findet der Rezipient keinen richtigen Anhaltspunkt für eine narrativ orientierte Dechiffrierung der Bilder. Denn die Abwesenheit eines Kontextes, kombiniert mit der unspektakulären Allgemeingültigkeit der Handlungen und Gesten dieser verlorenen Seelen, verbietet eine erzählerische Lesart. Alles ist diffus. Es wird nichts gezeigt. Die These erhärtet sich: Diese anmutigen Farbflächen, die wie Menschen aussehen, sind alles andere als Menschen. 

 

Anmutig sind die Bilder von Kerstin Müller-Schiel allemal. Die großzügig auf dem Bildträger ausgebreiteten Farben schillern; sie verleihen der Menschenleere eine unerwartete Pracht. Die anthropomorphen Flächen wirken geschmeidig und elegant. Sie sind zwar substanzlos, aber sie sind schön. Es ist das Paradox dieser  Gemälde: Alles ist diffus, aber gleichzeitig ist alles leuchtend und klar. Die Abwesenheit von menschlicher Expressivität wird durch eine formelle Üppigkeit konterkariert, die verzweifelte Leere durch erhöhte Sinnlichkeit gerettet. Die Konturen sind präzise und kräftig, die Flächen lebendig – und trotzdem ist diese Welt wie ausgestorben. Was zunächst wie ein unlösbarer Widerspruch klingt, bringt im eigentlichen Sinn die Position der Malerin auf den Punkt.

 

Denn es geht Müller-Schiel nicht um Menschen; die Duisburger Künstlerin malt zwar objektiv betrachtet „Portraits“, aber Menschen sind letztendlich nirgendwo zu sehen. Die Allgegenwärtigkeit des anthropologischen Sujets täuscht nicht darüber hinweg, dass die Figur nur eine Art Vorwand bildet. Stillleben, Landschaften oder abstrakte Kompositionen hätten es auch getan. Das Bild, und allein das Bild, steht im Vordergrund. Um Farbe, Form, Komposition, um Akkorde und Kontraste geht es.  Es geht um malerische Fragen, um bildimmanente Phänomene, um Gesten, um eine selbstbezogene Praxis. Es geht um den Akt des Malens selbst, der sich nie hinter den gemalten Zeichen und Motiven versteckt, sondern stets präsent bleibt. Die Hand der Künstlerin ist ja sichtbarer als das Gesicht der Figuren, die sie formt. Der Stil drängt sich vor und stellt eine vermeintliche Thematik völlig in den Schatten. Auch wenn es nicht sofort deutlich ist: Kerstin Müller-Schiel malt nicht „Bilder von“, sie malt Bilder. Punkt.

 

Als der Mensch sich aus diesen Gemälden verabschiedete, hinterließ er elegante, ja dekorative Spuren. Anstatt fleischiger Körper, greifbarer Raumgefüge und realistischer Situationen sind Ornamente, Farbstudien und beinah abstrakte Arrangements entstanden, die eine gewisse visuelle Geschmeidigkeit besitzen. Der Pinsel streift geschwind an der Oberfläche des Bildträgers, definiert Form und Hintergrund, schlängelt sich durch das Blatt mit offensichtlichem Vergnügen, sucht den Kontrast, kreiert Windungen und Rundungen, füllt den Raum, findet Gefallen an dem Ergebnis, wirkt beinah selbstverliebt. Pure Freude. Man merkt dieser Malerei an, wie gekonnt sie ist. Das Wissen um den Körper ist Voraussetzung, die Beherrschung der Anatomie Grundlage; trotzdem befreit sich der nervöse Duktus aber immer wieder von den Zwängen des Naturalismus, um seine eigene Gesetzmäßigkeit zu finden. Der erfahrene Blick erkennt in diesen Bildern die große Mallust und den schieren Genuss der Künstlerin. Die einfache, selbstgenügsame Schönheit dieser Gemälde, ihre fast frevelhafte Sinnlichkeit erinnert an Matisse, an die Aquarelle von Nolde, an manchen reduzierten Vuillard, gar an Klimt.

 

Müller-Schiel überträgt manche Qualitäten der grafischen Praxis auf die Malerei. Ihre schnelle Arbeitsweise, die sich jede Art der Korrektur oder der durch Übermalung verbietet, besitzt die Spontanität und die ungeschützte Direktheit der Zeichnung. Wenn das Format ihrer Bilder nicht so groß wäre, könnte man ihre Motive als Farbskizzen interpretieren: Alltagsszenen und unspektakuläre Figur-Raum-Konstellationen werden rasch festgehalten; es sind Entwürfe, die die Leichtigkeit und Unbeschwertheit einer beiläufigen Beobachtung besitzen. Ihr breiter, flächiger Duktus erinnert an die Möglichkeiten der Lithografie oder des Siebdruckes. Es wird selten versucht, eine Tiefe zu kreieren. Das Bild oszilliert zwischen Fenster zur Welt und Ornamentik. Ein letzterer Hinweis auf eine grafische Strategie liefert der Umgang der Künstlerin mit der leeren, unbearbeiteten Flächen ihrer Gemälde. Diese Bereiche sind die Lungen der Komposition. Hier können sowohl Farbe als auch Zeichen atmen und Raum gewinnen – eine in der reinen Malerei eher seltene Angelegenheit.

 

Die Motive von Kerstin Müller-Schiel leugnen nie ihre Herkunft: Es sind flache Bilder, die sich auf andere flache Bilder beziehen. Die Künstlerin bearbeitet fotografische Vorlagen, die meistens aus ihrer Privatsammlung, manchmal aber auch aus der Welt der Werbung stammen. Diese Motive sprechen die Künstlerin auf eine besondere Weise an. Dies ist mehr als der rein menschliche Bezug, sie ist von den Linien eines Körpers, von der Gestalt einer Geste, von der Anmut eines Ausdrucks angezogen. Schnell – schon im Akt der Rezeption – kommen aber die ersten Momente einer Stilisierung. Bereits während der Betrachtung ihres Bildmaterials teilt die Künstlerin das Bild in Flächen auf. Sie sieht nicht Menschen, sondern Formen, Bewegungen, Farben, Lichtverhältnisse, Kontraste. Ihr abstrahierender Blick gibt diese Informationen an ihre Hand weiter, die dann diese Formen, Bewegungen, Farben, Lichtverhältnisse und Kontraste aufs Bild überträgt. Diese Verfahrensweise liefert noch einen Beweis dafür, dass die realen Figuren, von denen die Malerin ausgeht, nur sekundär sind.

 

Deshalb lässt sich ihre Kunst doch nicht mit der Kunst von den höher erwähnten Künstlern vergleichen. Deshalb lässt sich ihre Kunst auch nicht mit der von Marlene Dumas vergleichen, eine Künstlerin, die immer wieder als mögliches Vorbild zitiert wird, dabei aber eine ganz andersartige Herangehensweise pflegt. Die Tatsache, dass  man nur in absentia von einem Sujet sprechen kann, macht klar, welche Bedeutung die autonome malerische Arbeit hier erlangt hat. Kerstin Müller-Schiel, das wiederholen wir ein letztes Mal, sucht nicht nach dem Ebenbild des Menschen. Ihre Suche ist viel fundamentaler: Sie sucht nach der Darstellungsfähigkeit der Welt.

 

Emmanuel Mir, Dezember 2013